Gewalt gegen Frauen: Ein gesellschaftliches Problem mit tief verankerten Strukturen
- Alisha Walpen
- 6. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Juni
Triggerwarnung:
Dieser Beitrag behandelt Gewalt gegen Frauen, darunter auch häusliche, sexualisierte und psychische Gewalt sowie Femizide. Die Inhalte können emotional belastend sein. Bitte lies achtsam und hol dir Unterstützung, wenn du dich betroffen fühlst. Am Ende des Beitrags findest du eine Übersicht mit Hilfsangeboten.
Gewalt gegen Frauen betrifft alle Generationen. Sie passiert täglich, oft im Verborgenen. Auch in der Schweiz. Betroffen sind Frauen jeden Alters, jeder Herkunft, jeden sozialen Hintergrunds. Auch ältere Frauen erleben Gewalt, obwohl darüber kaum gesprochen wird.
Durchschnittlich sterben hierzulade jedes Jahr rund 25 Personen infolge häusliches Gewalt, die Mehrheit davon sind Frauen. Das bedeutet, dass etwa alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Partner, Ex-Partner oder ein Familienmitglied getötet wird. Solche extremen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt werden als Femizid bezeichnet, worunter man die Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind, versteht. Derartige Fälle machen deutlich, dass Gewalt gegen Frauen keine Privatsache ist, sondern ein tiefsitzendes gesellschaftliches und humanitäres Problem. Mit diesem Beitrag möchten wir sensibilisieren und zeigen, dass Hilfe möglich ist.
Ausmass: Gewalt gegen Frauen in der Schweiz
Gewalt an Frauen tritt in vielfältigen Formen und Kontexten auf. Von häuslicher Gewalt in Partnerschaften bis zu sexuellen Übergriffen im öffentlichen Raum. Laut polizeilicher Kriminalstatistik geschehen 40% aller registrierten Straftaten in der Schweiz im häuslichen Bereich. Im Jahr 2021 wurden über 19’000 Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt registriert. Dabei sind rund 70% der Opfer weiblich, während ca. 30% männlich sind (ein Verhältnis, das seit Jahren etwa konstant bleibt). Diese Zahlen sind schockierend. Gleichzeitig erfassen offizielle Statistiken nur die sogenannten Hellfeld-Fälle, also angezeigte oder der Polizei bekannt gewordene Taten. Experten schätzen jedoch, dass sich nur etwa 10–20% der Betroffenen überhaupt an die Polizei oder Behörden wenden. Mit anderen Worten: Ein Grossteil der Gewalterfahrungen bleibt im Dunkeln (sogenanntes Dunkelfeld) und wird nie gemeldet.
Auch bevölkerungsweite Umfragen bestätigen die hohe Dunkelziffer. So erleben der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» zufolge die überwiegende Mehrheit aller Frauen mindestens einmal im Leben Gewalt, sei er körperliche, psychische, sexuelle oder in anderen Formen. Diese Gewalt wird oft aus Scham oder aus Angst nicht öffentlich gemach, denn geschlechtsspezifische Übergriffe sind nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Betroffene befürchten, man könnte ihnen eine Mitschuld geben oder ihnen nicht glauben.
Und diese Angst ist leider berechtigt. Viele Frauen berichten, dass ihnen nach erlebter Gewalt, ob körperlich, psychisch oder sexuell, nicht geglaubt wurde. Häufig werden Aussagen infrage gestellt oder relativiert. Besonders verletzend ist es, wenn die Verantwortung für das Erlebte unbewusst oder sogar bewusst auf die betroffene Person übertragen wird. Solches sogenannte «Victim Blaming» ist leider weit verbreitet, auch in der Schweiz.
Gewalt im Alter: Ein übersehener Bereich
Gewalt im Alter wird in unserer Gesellschaft nur selten offen angesprochen. Aus Scham, aus Abhängigkeit oder weil das Umfeld wegschaut, bleibt sie oft verborgen. Dabei ist das Problem nicht neu. In der Schweiz sind schätzungsweise 300'000 bis 500'000 Menschen über 60 von Gewalt oder Vernachlässigung betroffen. Besonders betroffen: ältere Frauen.
Wir haben diesem Thema bereits einen separaten Beitrag gewidmet:
Darin beschreiben wir die verschiedenen Formen von Gewalt im Alter: psychische Gewalt, finanzielle Ausbeutung, körperliche Übergriffe, sexuelle Grenzverletzungen und bewusste Vernachlässigung. All diese Erscheinungsformen können im privaten Umfeld oder in Institutionen auftreten. Oft durch nahestehende Personen wie Partner, Kinder oder pflegende Angehörige.
Häufige Risikofaktoren sind soziale Isolation, Pflegebedürftigkeit, Abhängigkeit von anderen, chronische Erkrankungen oder Demenz. All diese Faktoren können es erschweren, Hilfe zu holen und erleichtern es Tätern, über lange Zeit unbemerkt zu agieren.
Viele betroffene Senior:innen schweigen, weil sie nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen, oder weil sie glauben, niemand würde ihnen glauben. Manche haben über Jahrzehnte gelernt, sich zurückzunehmen und keine Forderungen zu stellen und erleben dadurch Gewalt als Teil des Alltags.
Umso wichtiger ist es, dass Fachpersonen aus Pflege und Betreuung, Hausärzte oder Nachbarn für dieses Thema sensibilisiert sind. Wer aufmerksam ist, kann helfen. Durch ein offenes Ohr, durch gezielte Fragen oder durch das Weitervermitteln an passende Stellen.

Gewalt kennt kein Alter, aber sie verändert sich
Auch wenn jüngere Frauen häufiger in den Statistiken erscheinen, darf daraus nicht geschlossen werden, dass ältere Frauen weniger betroffen sind. Im Gegenteil: Viele Formen der Gewalt verändern sich mit dem Alter, werden subtiler, aber nicht harmloser.
Während bei jüngeren Frauen oft sexualisierte Gewalt und Kontrolle in Beziehungen im Vordergrund stehen, erleben ältere Frauen häufiger psychische Gewalt, finanzielle Abhängigkeit oder Vernachlässigung. Besonders tragisch: Jede fünfte Frau, die in der Schweiz Opfer eines Femizids wird, ist über 64 Jahre alt.
Bei älteren Betroffenen fehlen häufig die sozialen Netzwerke, die Jüngere eher haben: Freundeskreise, digitale Zugänge zu Informationen oder Möglichkeiten, sich auszutauschen. Das macht sie besonders verletzlich. Es braucht deshalb gezielte Angebote, die auch für ältere Menschen zugänglich und verständlich sind.
Formen von Gewalt: Von sichtbaren Verletzungen bis zu leisen Übergriffen
Gewalt gegen Frauen kann viele Gesichter haben. Die häufigsten Erscheinungsformen sind:
Psychische Gewalt: Demütigungen, Drohungen, Beschimpfungen, Isolation oder kontrollierendes Verhalten
Körperliche Gewalt: Schlagen, Stossen, Würgen, sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung – auch in langjährigen Beziehungen oder Pflegeverhältnissen.
Ökonomische Gewalt: Kontrolle über Geld, Zugang zu Konten oder Erbschaftsdruck
Vernachlässigung: Unzureichende Pflege, fehlende Versorgung mit Nahrung oder Medikamenten, soziale Isolation
Oft treten mehrere Formen gleichzeitig auf. Mit massiven Auswirkungen auf die körperliche oder seelische Gesundheit der Betroffenen.
Femizid: Wenn Gewalt tödlich endet
Wenn Frauen getötet werden, weil sie Frauen sind, spricht man von Femizid. In der Schweiz wird durchschnittlich alle zwei Wochen eine Frau von einem aktuellen oder ehemaligen Partner oder einem Familienmitglied getötet. Diese Gewalt ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines Machtverhältnisses, das sich in Kontrolle, Abwertung und im schlimmsten Fall in Tötung äussert.
Zwischen 2013 und 2022 wurden in der Schweiz rund 250 Frauen durch ein Familienmitglied getötet. Diese Zahlen sind nicht nur statistisch erschreckend, sondern gesellschaftlich alarmierend. Sie zeigen, dass Gewalt gegen Frauen lebensbedrohlich ist und dass bestehende Schutzmassnahmen nicht immer ausreichen.
Fazit: Gewalt erkennen und Verantwortung übernehmen
Gewalt gegen Frauen betrifft uns alle: als Gesellschaft, als Fachpersonen, als Mitmenschen. Es braucht Sensibilisierung, Aufklärung und konkrete Hilfsangebote, damit betroffene Frauen nicht allein bleiben. Besonders im Alter dürfen wir nicht wegsehen. Jede Form von Gewalt ist eine Grenzüberschreitung und hat Konsequenzen, die das ganze Leben verändern können.
Vor allem aber braucht es ein gesellschaftliches Umdenken. Gewalt gegen Frauen ist nie die Schuld der Betroffenen. Die Verantwortung liegt immer bei den Tätern, nie bei jenen, die Gewalt erfahren. Diese Haltung muss sich in Gesprächen, in Medien, in Institutionen und in alltäglichen Reaktionen widerspiegeln.
Als Spitex setzen wir uns für ein sicheres und respektvolles Zusammenleben ein. Wir hören hin, schauen nicht weg und helfen.
Hilfsangebote: Nicht allein bleiben
Wer Gewalt erlebt, soll wissen, dass es Hilfe gibt. Die Schweiz verfügt über zahlreiche Anlaufstellen, die Schutz, Beratung und Unterstützung bietet. Anonym, kostenlos und respektvoll.
Polizei: In akuten Notlagen sofort kontaktieren.
Tel.: 117
Opferhilfe Schweiz: In jedem Kanton zugänglich.
www.opferhilfe-schweiz.ch | Beratungsstelle Bern: 031 370 30 70
Frauenhäuser: Schutzunterkünfte für Frauen und ihre Kinder
www.frauenhaeuser.ch | Hotline Kanton Bern: 031 533 03 03
Beratung Alter ohne Gewalt: Speziell für ältere Menschen und deren Umfeld
www.alterohnegewalt.ch | Tel.: 0848 00 13 13
Dargebotene Hand: Gesprächsangebot rund um die Uhr
www.143.ch | Tel.: 143
Spitex mit psychiatrischer Pflege: Wir bieten fachliche Begleitung für Menschen, die psychisch belastet sind, unabhängig vom Alter.
www.ipbspitex.ch | Tel.: 033 334 16 21
Betroffene müssen keine Schuldgefühle haben. Gewalt ist nie gerechtfertigt und sie beginnt oft schleichend. Umso wichtiger ist es, frühzeitig über Warnzeichen zu sprechen und Hilfe anzunehmen.
Auch Angehörige und Nachbarn können einen wichtigen Beitrag leisten. Wer etwas beobachtet oder ein ungutes Gefühl hat, sollte nicht zögern, sich diskret bei einer Fachstelle zu informieren. Jeder Hinweis kann entscheidend sein.